Neue Lebensrealität mit AIH, Myalgische Enzephalomyelitis und Zöliakie

Patientin Linda

Patientin Linda
1999

Ich heisse Linda und bin 24 Jahre alt. Bereits mein halbes Leben lang bin ich Tag für Tag damit konfrontiert, chronisch krank zu sein. Neben der nun neu diagnostizierten AIH habe ich bereits eine Zöliakie (Glutenunverträglichkeit) sowie Myalgische Enzephalomyelitis, eine sehr vielschichtige neuroimmunologische Erkrankung mit dem Leitsymptom der Belastungsintoleranz. Mit der Diagnose Autoimmunhepatitis änderte sich im Dezember 2023 jedoch meine Lebensrealität noch einmal drastisch.

Mit dem Gedanken, dass es wohl wieder mal ein «Crash» aufgrund der Myalgischen Enzephalomyelitis sei und ich mich die Tage davor einfach übernommen haben musste, lag ich in der ersten Dezember-Woche bei mir zu Hause im Bett. Heftigste migräneartige Kopfschmerzen zwangen mich dazu, sämtliches Licht und jegliche Geräusche komplett zu meiden. Sobald ich versuchte etwas zu essen oder zu trinken, musste ich mich unmittelbar übergeben. Dazu kamen höllische Gelenkschmerzen (eine komplett neue Art von Schmerzen, die ich bis dahin nicht kannte), die sehr zufällig wirkend über den ganzen Körper verteilt auftauchten. Rückblickend betrachtet, traten die Gelenkschmerzen bereits über ein halbes Jahr zuvor auf, jedoch massiv weniger stark als im Dezember. Nach drei Tagen 24/7 mit Noise-Cancelling-Kopfhörern oder Oropax geschützt im abgedunkelten Zimmer, hielt ich es in der darauffolgenden Nacht nicht mehr aus. Obwohl ich aufgrund vergangener Spitalaufenthalte ein sehr zerrüttetes Vertrauensverhältnis in das medizinische Personal habe und massive Angst vor erneuten Grenzüberschreitungen in Bezug auf meine Nadelphobie, welche ich aufgrund eines Traumas habe (weshalb Blutentnahmen und Impfungen in den vergangenen 10 Jahren nur unter kurzer Gasnarkose möglich waren), bat ich meine Mutter, mich noch in dieser Nacht, ins Krankenhaus zu bringen. Es wurde jedoch ziemlich schnell klar, dass sie das alleine nicht schaffen würde, da ich mittlerweile kaum mehr aufrecht sitzen konnte. So wurde ich am 02.12.2022 mit dem Krankenwagen in das nächstgelegene Spital gebracht. Leider bewies sich dort einmal mehr der absolut mangelhafte Umgang mit Traumata: Die 7h Notaufnahme lapidar zusammengefasst: Kein Grund für stationäre Aufnahme; 4x am Tag 1 g Dafalgan; max. 3x täglich 10 mg Paspertin; mit dem Krankentransport liegend wieder nach Hause.

Gesundheitlich unverändert, dafür mit einer neuen negativen Spitalerfahrung, bat ich meine Mutter am nächsten Tag, meinen Hausarzt sowie meinen Psychiater zu kontaktieren und um Hilfe zu bitten. Vor allem die Einnahme und das Beisichbehalten des verschriebenen Dafalgans nach der dritten oder vierten Tablette war mehr ein Glückspiel als sonst etwas (und das war rückblickend aufgrund der Hepatotoxität vermutlich auch ganz gut so). Mir ging es zunehmend schlechter. Zudem erreichten die Gelenkschmerzen unterdessen ein schier unerträgliches Ausmass. Später erzählte mir meine Familie, dass ich zu diesem Zeitpunkt immer mal wieder weggetreten sei und sich die apathischen Momente mit solcher völligen Verzweiflung und Panik abwechselten. Ich selber kann mich nur sehr bruchstückhaft an diese Tage erinnern. Da sämtliche Hilfeversuche meines Hausarztes nicht fruchteten, beschlossen wir gemeinsam und in Rücksprache mit meinem Psychiater (es galt nach wie vor, eine Retraumatisierung zu verhindern) erneut die Notaufnahme aufzusuchen. Dieses Mal sollte es jedoch ins USZ gehen. Fazit nach 10h Notaufnahme: Status Migränosus; ambulanter Termin in der Neurologie in einigen Wochen und ein fader Beigeschmack im Sinne von «wenn sie sich nicht stechen lassen will, dann wird der Leidensdruck wohl nicht gross genug sein». Doch leider funktionieren Traumata nicht so. Einmal mehr wünschte ich mir, wie jede andere nicht von einer massiven Nadelphobie betroffene Person, mir einen Zugang legen lassen zu können ohne mich zwischen einer durch die Spitäler verweigerten Narkose oder der Retraumatisierungsfolge aus dem Versuch, dies im wachen Zustand tun zu müssen, zu entscheiden.

Nach 6 Tagen permanenter Abschirmung vor Licht und Geräuschen, kontinuierlichem Erbrechen, sehr geringer Flüssigkeitszufuhr, andauernden Schmerzen und purer Verzweiflung darüber, dass jene, die die Möglichkeit hätten zu helfen, dies nicht taten aus mangelndem Willen und Wissen und der Stigmatisierung einer Phobie als «willentlich überwindbares psychisches Problem», fragte ich mich das erste Mal, ob ich das überleben würde. Ich hatte schon immer ein sehr feines und gutes Körpergefühl, weshalb ich auch nicht verwundert darüber war, jedoch Angst in mir hochstieg, als ich zu spüren begann, wie mein Herz «Mühe hatte» zu schlagen und das Atmen gefühlt immer anstrengender wurde. Ich kann mich an diesen Tag, genau wie an die 3 davor und ca. 7 danach, zwar nur bruchstückhaft erinnern, jedoch weiss ich noch sehr genau, wie ich weinend und völlig erschöpft in den Armen meiner Schwester lag und zu ihr sagte, dass ich nicht sterben wolle, aber mein Körper langsam einfach nicht mehr könne. Danach sind meine Erinnerungen wieder weg. Der nächste Erinnerungsfetzen ist die Szene, wie mein Hausarzt bei mir zu Hause einen Zugang legt und meine darauffolgende Panikattacke: Atemnot, Zittern am ganzen Körper, jedoch ohne einen einzigen Muskel bewegen zu können, Pfeifen in den Ohren, Kribbeln am ganzen Körper.

Bis heute schiessen mir Tränen in die Augen, wenn ich daran denke, dass der versteckte Vorwurf von «wenn der Leidensdruck gross genug ist, wird sie sich schon stechen lassen» wahr sein könnte. Doch zu welchem Preis wäre er das?

Mein Hausarzt lies über Nacht zwei Infusionen durchlaufen und leitete am nächsten Tag alles in die Wege, damit ich erneut mit dem Krankenwagen ins USZ gebracht wurde. Die ersten paar Stunden in der Notaufnahme glichen einer schlechten Wiederholung des letzten Males, mit der Ausnahme, dass dieses Mal durch den vorhandenen Zugang Blut entnommen werden konnte. Besonders in Erinnerung bleibt mir folgender Satz einer Ärztin: «Wir haben noch vier freie Betten im ganzen Spital und diese werden für richtige Notfälle benötigt». Aber auch die Sätze einer Oberärztin der Gastro wie «Bei so jungen Frauen muss man nur sicher gehen, dass es nicht der Blinddarm ist und der ist bei Ihnen in Ordnung. Sie werden wohl einfach etwas Verstopfung haben und das ist nichts für die Notaufnahme.», haben sich eingebrannt und reihen sich in eine lange Liste von Aussagen und Vorfällen ein, die zu meinem zerrütteten Vertrauensverhältnis zum medizinischen Personal beigetragen haben.

Irgendwann nach Mitternacht änderte sich der Umgangston schlagartig: Uns wurde mitgeteilt, dass man nun ein Zimmer für mich suche, und das, obwohl wir noch keine Stunde zuvor gefragt wurden, ob wir selbstständig wieder nach Hause gehen könnten oder ob ein Rücktransport nötig sei. Ich weiss nicht genau, was sich in dieser Stunde änderte, vermute aber, dass meine Laboranalyse unterdessen neben einer mittelschweren Hypokaliämie auch deutlich erhöhte Leberwerte zeigte.

Auch an die ersten Tage im Spital kann ich mich nicht wirklich gut erinnern. Ich weiss nur noch, dass ich sehr viel geschlafen habe, währenddessen sich meine Leberwerte weiter verschlechterten. Ihren Tiefpunkt (oder Höhepunkt – wie man’s nimmt) erreichten sie dann am 15.12.2022 mit AST 341 U/l, ALT 234 U/l, GGT 1052 U/l und einer Alk. Phosphatase von 498 U/l. Am selben Tag erhielt ich die Diagnose Autoimmunhepatitis und es wurde mit der Behandlung begonnen. Relativ schnell wurden die Symptome danach immer weniger.

Was jedoch auch nach meiner Entlassung am 24.12.2022 blieb war die schmerzliche Erkenntnis, dass die Psyche und das Vertrauen wesentlich länger brauchen, um zu heilen als der Körper. Und dies obwohl ich an all den Tagen, an denen ich im Dezember letztes Jahr stationär im USZ war, keine einzige negative Erfahrung mehr machte.

Obwohl ich beim Erzählen von Dingen aus dem Alltag immer wieder merke, dass , ich sehr stark in eine Zeit vor dem Spitalaufenthalt im Dezember und in eine Zeit danach unterteile, hat sich im alltäglichen Leben – abgesehen von den 16 Tabletten, die ich täglich schlucken muss – nicht viel verändert: Ich arbeite nach wie vor in einem 40 % Pensum, bin teilweise auf einen Rollstuhl angewiesen und wohne alleine, da das Reihenhaus, in dem ich aufgewachsen bin, alles andere als rollstuhlgängig ist (und weshalb ich dann mit 19 Jahren mit meinem damaligen Freund in eine barrierefreie Wohnung gezogen bin). Ich kämpfe immer noch täglich darum, meine Energie möglichst gut einzuteilen, damit mein Leben nicht nur aus arbeiten und schlafen besteht, wie dies bereits früher über Jahre hinweg der Fall war, als ich noch in einem höheren Arbeitspensum angestellt war. Ich bin vermutlich noch etwas mehr als vor der Spitalzeit im Dezember darauf angewiesen, dass jeden Tag jemand Essen für mich kocht, mir im Haushalt und beim Duschen hilft, mir etwas zu trinken oder Medikamente bringt, wenn ich am Abend vor lauter Schmerzen nicht mehr laufen kann und mir die Kraft fehlt, mich in den Rollstuhl zu hieven. An den meisten Tagen übernimmt meine Mutter diese (und noch eine ganze Reihe weiterer) Arbeiten, manchmal auch meine Schwester und vereinzelt Freundinnen von mir.

Meinen Antrag auf Hilflosenentschädigung bei der IV stellte ich bereits im Herbst 2018. Die Abweisungsverfügung erhielt ich im Juli 2022 und ein knappes Jahr später war es dann mit dem Urteil des Sozialversicherungsgerichts definitiv. Bis heute kann ich nicht nachvollziehen, wie es sein kann, dass die Diagnose der Autoimmunhepatitis zu spät gestellt wurde, um sozialrechtlich relevant zu sein, obwohl das Verfahren zum Zeitpunkt der Diagnose noch lief und bereits Jahre zuvor im Blut neben den Leberwerten auch Werte, die auf ein autoimmunes Geschehen hindeuten, klar erhöht waren.
Während des gesamten Verfahrens mit der IV hatte ich jedes Mal das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun und dass ich eigentlich doch gar keinen Anspruch auf Unterstützung hätte, wenn es mir mal einen Tag gut ging, ich glücklich war, vielleicht sogar die Energie hatte etwas zu unternehmen, selbst wenn dies im Rollstuhl geschah. Darf ich überhaupt den Anspruch stellen, ein Hobby zu haben? Alleine zu wohnen? Mit einer Freundin auf den Weihnachtsmarkt zu gehen? Ein Teil der Gesellschaft zu sein? Nur allzu deutlich schmetterte mir die IV die Antwort auf der 12-seitigen Abweisungsverfügung ins Gesicht: Nein. Im Gegenteil, im Sinne der Mitwirkungspflicht hätte ich mir eine Kurzhaarfrisur schneiden lassen müssen, damit ich keine Hilfe beim Haare kämmen benötige. Ich hätte abends aufs Trinken verzichten müssen, damit ich nachts keine Hilfe für den Weg zur Toilette benötigte. Ich hätte von unterwegs Essen mitnehmen sollen, damit niemand für mich kochen muss: Dass das aufgrund meiner Zöliakie jedoch gar nicht möglich ist, weil ich bereits auf kleine Spuren von Gluten im Essen reagiere, wurde völlig ausser Acht gelassen. Ich hätte kurz gesagt mein gesamtes Leben, wie ich aussehe, wann und welche Nahrungsmittel oder Getränke ich zu mir nehme, ob und wie oft ich Sozialkontakte pflege, fremdbestimmen lassen müssen, bevor in Erwägung gezogen worden wäre, dass ich finanzielle Hilfe erhalte. Ich kann nicht zählen, wie oft ich mich in den knapp fünf Jahren folgendes gefragt habe: «Habe ich als Mensch mit chronischer Erkrankung / Behinderung nicht auch das Recht auf ein würdevolles Leben? Auf Menschenwürde?» Die Bundesverfassung macht in ihrem siebten Artikel; «Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen» eigentlich keine Ausnahme, die IV schon.

Aktuell warte ich auf den Rentenbescheid der IV. Das Warten bin ich ja unterdessen gewohnt. Dieses Mal warte ich jedoch mit einem sehr zwiespältigen Gefühl in mir, weil einerseits die Tatsache, dass die Pensionskasse bereits eine Rente gesprochen hat, hoffen lässt. Diese Hoffnung wird aber andererseits zugleich von den Erfahrungen der vergangenen fünf Jahre im Keim erstickt.

Ich versuche jeden Tag etwas mehr zu leben und etwas weniger bloss zu überleben. Ich versuche, häufiger Hörbücher zu hören, zu basteln, im Garten zu sein, an Weihnachtsmärkte zu gehen und andere Dinge zu tun, die mich glücklich machen. Ich versuche, mehr Leute zu treffen, die mir guttun. Und erkämpfe mir damit Tag für Tag ein Stück meiner Menschenwürde zurück.

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